Obdachlos für einen Sommer

Robert Michael

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Den Sommer hat Maik* rund um den Elbepark verbracht. Hier in der Nähe des Dresdner Einkaufszentrums hat der 52-Jährige mal gewohnt, als das Leben noch schön war, hier kennt er jeden Stein. Am Tag zog er durch die Gegend, manchmal besuchte er Ämter in der Neustadt, immer hielt er Ausschau nach offenen Wlan-Punkten. Zum Duschen ging er zur Wohnungsnotfallhilfe der Diakonie. Abends zog es ihn zu McDonald’s, die haben bis in die Nacht geöffnet. Gut auch, wenn man mal muss. Abends fuhr er mit seinem Rad und dem Rucksack in die Flutrinne. Dort, unter einer Brücke, 100 Meter Luftlinie von seiner früheren Wohnung entfernt, war es ruhig, er fühlte sich sicher, nur selten übernachten hier andere Obdachlose. Maik rollte dann seine Iosmatte aus, zog den Schlafsack und ein kleines Kopfkissen aus dem Rucksack und machte es sich so bequem, wie es unter einer Brücke sein kann. Manchmal schlief er auch bei Ikea, auf den Gartenmöbeln im Freien. Ein vergleichsweise gemütlicher Platz, zudem videoüberwacht. Und, praktisch, die Kaufland-Filiale um die Ecke öffnet um 7 Uhr. Hier besorgte er sich das Frühstück und lernte, dass man nicht 25 Cent für ein Brötchen ausgeben muss, wie er es gewohnt war. 13 Cent reichen auch.
 Eines Morgens, Maik saß gerade vor dem Kaufland und kaute ein Brötchen, fuhr ihm der Schreck in die Glieder. Sein Rucksack, der gerade noch neben ihm stand, war weg. Geklaut. Da war alles drin, was wichtig ist. Ein paar Sachen, vor allem aber alle Ausweise, Geldkarte, Sozialversicherungskarte, Geburtsurkunde. Alles, was ein Obdachloser noch besitzt. Es war der Tiefpunkt in Maiks Leben. Auf einen solchen Absturz hat lange nichts hingedeutet. Maik wächst in Meißen auf, ist ein vernünftiger Schüler. Wie viele Jungs knallt er mittags gern seinen Ranzen in die Ecke und läuft auf den Bolzplatz. Fußball liebt er, Handball noch mehr. Er schafft es später bis in die Bezirksauswahl. Nach der zehnten Klasse beginnt er eine Lehre als Koch, macht den Facharbeiterbrief mit „gut“. Schon nach zwei Jahren Berufspraxis wird er „einer der jüngsten Gaststättenleiter der DDR“, wie er meint. In der Raststätte „Güldene Aue“ in Kiera-Zehren. Auch privat läuft alles glatt. Er verliebt sich, das Paar zieht zusammen, 1987 kommen Zwillinge zur Welt.
 Die erste Krise erlebt er bei der Armee. Während des letzten 18-Monate-Grundwehrdienstes in der Geschichte der NVA geht seine Lebensgemeinschaft in die Brüche. Als er entlassen wird, Ende 1989, ist nichts mehr, wie es war. Er muss wieder bei den Eltern einziehen. Aber er rappelt sich auf, sucht eine Frau per Kleinanzeige in der SZ. Unter den Antworten ist tatsächlich die Richtige dabei. Rasch zieht er mit ihr und ihrem Kind zusammen, schon im Februar 1990 heiraten sie. Er versucht sich als Koch in verschiedenen Küchen, fängt schließlich beim Caterer Sodexo an, steigt zum Küchenleiter auf. Die längste Zeit ist er in Dresden für 45 Mitarbeiter verantwortlich. Der kleinen Familie geht es gut, sie können sich was leisten, fahren drei-, viermal im Jahr in den Urlaub. Aber der Job schlaucht. „14 bis 16 Stunden jeden Tag hält man auf Dauer nicht aus. Ich war 2013 schon mal kurz vor dem Burnout“. Er wechselt auf eigenen Wunsch in eine kleinere Küche.
Den Beginn seiner zweiten Krise kann Maik exakt bestimmen: Weihnachten 2014. Eine seiner beiden Schwestern stirbt. In den folgenden Monaten muss er auch seine geliebte Oma und einen Handballkumpel beerdigen. Er hat das Gefühl, der Boden bricht weg unter seinen Füßen, wird wegen eines Erschöpfungssyndroms krankgeschrieben. Im Juni 2015 glaubt er, es geht nicht weiter. Er überlegt, ob er springen soll. Es folgt eine psychologische Behandlung. Er nimmt 40 Kilo ab und fährt jetzt täglich 200 Kilometer mit dem Fahrrad. „Ich wollte den Kopf freibekommen.“
 Im November 2015 erhält er die Kündigung, noch während der Krankschreiben. Wenige Wochen später trennt sich seine Frau von ihm, erklärt nur, sie wolle jetzt allein leben. Er versteht es bis heute nicht.
 Die Wohnung ist nun zu groß und zu teuer, er sucht sich eine kleinere. Bis Mai 2016 bekommt er sein Gehalt weiter, dann nur noch Arbeitslosengeld. Es reicht nicht mehr, er hatte noch Kredite abzuzahlen, aus den guten Zeiten. Fürs Auto, die Küche. Als er die Miete nicht mehr zahlen kann, wird ihm die Wohnung gekündigt. Er müsste jetzt aufs Sozialamt, um eine neue Wohnung zu bekommen. Aber er schafft es nicht. Er weiß nicht mal, wie das geht. Für ein paar Tage nimmt ihn ein Kumpel auf, ab und an schläft er im Juni 2017 schon mal auf einer Parkbank. Ein Wohnungslosenheim kommt nicht infrage, er hat Angst davor. Dann lieber obdachlos.
 Maik macht noch eine schlimme Erfahrung: „Ich kenne so viele Leute. Aber in einer solchen Situation ist keiner da.“
 Als nur der Elbepark bleibt, verordnet er sich selbst klare Regeln: Du hältst dich fern von den Suffis und trinkst selbst keinen Alkohol! Achte auf deine Hygiene! Überleg dir, wie du da wieder rauskommst! Suche erst nach einem Job und dann nach einer Wohnung!
 Spät, sehr spät, als er schon auf der Straße lebt, findet er auch zur Wohnungsnotfallhilfe. Hier kann er nicht nur duschen und Wäsche waschen, er bekommt auch mal einen Kaffee und ein Mittagessen. Und er findet in Michael Schulz einen Menschen, der sensibel berät und zurückhaltend hilft. Schulz erkennt rasch, dass dieser Obdachlose ein strukturiert denkender Mensch ist, der sich da selber rausziehen will. Maik gehört nicht zu den typischen Wohnungslosen in Dresden, die Schulz grob auf 1 000 Personen schätzt. Statistiken werden nicht mehr erhoben. Angeblich, weil die Zahlen zurückgehen. Allerdings stimmt das nicht mit den Erfahrungen der Diakonie überein. Klar ist nur, dass gut 300 von ihnen in Heimen leben. Viele kommen irgendwie bei Verwandten und Freunden unter. Wirklich ohne Obdach sind wenige, sie verstecken sich eher auf der Straße. Eine offene Szene wie in anderen großen Städten gibt es in Dresden nicht.
 Maik hat auf seinen einsamen Wegen rings um den Elbepark einige Wochen lang gegrübelt, was er denn anstellen könnte, um sich aus seiner Lage zu befreien. Da traf er einen Kumpel, der ihm den entscheidenden Tipp gab: Eine Cateringfirma sucht Köche und erwartet ihn zum Probearbeiten. Danach wird er sofort eingestellt. Obwohl die Firma weiß, dass er noch auf der Straße lebt. Als der Arbeitsvertrag unterschrieben ist, geht’s an die Wohnungssuche. Zunächst erlebt er, was Menschen in Problemlagen, aber auch Flüchtlinge immer wieder erfahren müssen: Private Vermieter wollen sie nicht. Zum Glück hilft Vonovia. Wenn es schnell gehen soll, so erfährt Maik, gebe es bei dem Wohnungsunternehmen eine unrenovierte Wohnung. Ja, es muss schnell gehen. Also zieht er mit einer Matratze ein und renoviert selbst.
Maik ist froh, den Einzug noch vor dem Winter geschafft zu haben; ein bisschen stolz ist er auch. Obwohl er weiß, dass ihn Schulden drücken, ist er optimistisch. „Ich habe immer an mich geglaubt, trotz aller Fehler, die ich gemacht habe. Deshalb komme ich da raus. Ich schaffe das.“ Schon träumt er von einer neuen Partnerschaft, von Reisen. Vielleicht schreibt er ein Buch über seine Erfahrungen.
 Nur mit dem Annehmen fremder Hilfe tut er sich weiter schwer. Als ihm Herr Schulz empfiehlt, bei der Stiftung Lichtblick der Sächsischen Zeitung Unterstützung zu beantragen, um notwenigste Einrichtungsstücke bezahlen zu können, da ziert er sich. Es gebe doch Bedürftigere als ihn. Krebskranke Kinder zum Beispiel. Für die hat er jedes Jahr gespendet, auch noch, als er selber ganz unten war. Aber Herr Schulz lässt nicht locker. Maik soll mal nicht zu stolz sein. Es war doch ganz bestimmt seine letzte Krise.

*Auf Wunsch des Betroffenen wurde sein Name geändert und so fotografiert, dass er nicht zu erkennen ist

Autor: Olaf Kittel

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