Die Rückkehr ins Leben

Thomas Kretschel

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Auf Bücher kann Kornelia Klose am schwersten Verzichten, sie, die Leseratte von klein auf. Mit der linken Hand kann sie zwar ganz gut umblättern, aber die rechte hält die Bücher nicht richtig fest. Immer wieder fallen sie runter, und sie muss um Hilfe bitten. Das nervt. Dicke Bücher gehen gar nicht, solche Geschenke packt sie nicht erst aus. Ihre Betreuerin Mandy Locke hatte nun die richtige Idee: Ein E-Book muss her. Die sind schön leicht und durchaus mit einer Hand zu bedienen. Die Stiftung Lichtblick spendierte das gute Stück, und Kornelia Klose freut sich sehr: Endlich wieder richtig Bücher lesen, auch die Wälzer. Der nächste Schritt ins normale Leben, das am 30. April 2013 von einer Stunde auf die nächste beendet war.
Aufgewachsen ist sie im Norden der DDR, in Dobbertin. Ihre Eltern, beide arbeiteten im Gesundheitswesen, hatten eine Dienstwohnung im dortigen Kloster, einem psychiatrischen Pflegeheim. Kornelia Klose wuchs mit körperlich und geistig Behinderten auf, es war für sie ganz normal. Es kommt ihr heute wie ein Wink des Schicksals vor. Sie geht dort zur Schule, liebt das Lesen und die Musik, wechselt später zur EOS und träumt von einem Medizinstudium. Ganz so gut sind die Noten am Ende doch nicht, sie studiert schließlich Lehramt für Bio und Chemie. Und heiratet mit 18, selbst für DDR-Verhältnisse ziemlich früh. Nach ein paar Anlaufschwierigkeiten klappt es mit einer Lehrerstelle, erst in Wolgast, dann in Karow, einem Nest in Mecklenburg.

Das Jahr 2000 brachte den ersten großen Einschnitt in ihrem Leben: Die kinderlose Ehe wird geschieden. Sie will für sich einen neuen Anfang, es darf gern weit weg sein. Dresden hat ihr schon immer gefallen, und Sachsen konnte die junge Lehrerin aus dem Norden gut gebrauchen. Nach einem Intermezzo in Ehrenberg bei Hohnstein fand sie an der Glückspilzschule in Dresden-Pieschen ihre neue berufliche Heimat. Sie kämpft dort leidenschaftlich für die Gemeinschaftsschule gegen allerlei Widerstände, gibt neben Biologie und Chemie auch Deutsch und Ethik für Schüler der fünften bis zehnten Klasse. Sie liebt ihren Beruf - „nur manchmal wollte ich lieber Fischverkäuferin sein“ - und entwickelt enge Bindungen zu ihren Schülern, so eng, dass einige heute noch zu Besuch kommen.
Der Arbeitstag geht von 7 bis 17 Uhr, manchmal auch bis 21 Uhr. Heute fragt sie sich schon ab und zu, ob sie sich damals nicht zu viel zugemutet hat.
Am 30. April 2013 hatte sie frei und die Zeit genutzt, ihre Steuererklärung auszufüllen. Mittags legte sie sich hin, um abends fit zu sein. Sie hatte sich vorgenommen, gemeinsam mit ihrer Freundin zum Hexenfeuer nach Ullersdorf zu gehen. Als sie sich hinlegte, spürte sie einen kurzen Schmerz, so als habe sie sich einen Nerv eingeklemmt. Aber sie konnte einschlafen.
Als sie aufwachte, spürte sie ihren Körper nicht mehr. Die Arme nicht, die Beine nicht. Nur den Kopf konnte sie noch bewegen. Nach dem ersten Schreck überlegte sie, wie sie ans Telefon im Wohnzimmer gelangen könnte. Sie brachte es fertig, sich aus dem Bett zu rollen. Aber dann ging es nicht weiter. Stundenlang rief sie um Hilfe. Keiner hörte sie. „Da dachte ich: Okay, das war`s wohl jetzt.“
Aber als die Freundin abends merkt, dass die sonst so zuverlässige Kornelia nicht zum vereinbarten Treff kommt, ahnt sie, dass etwas passiert sein muss. Gegen 20 Uhr findet sie die Hilflose in ihrer Wohnung und ruft den Notarzt. In der Klinik fällt sie drei Tage ins Koma. Als sie wieder aufwacht, finden die Ärzte bald die Ursache der Erkrankung: Eine Entzündung über dem fünften Wirbel hat das Rückenmark zerstört. Ihr Immunsystem war geschwächt.

Die Ärzte wagen keine klare Prognose. Aber alle versuchen ihr Mut zu machen. So in der Art: Es kann sein, dass einige Funktionen wiederkommen. Kornelia Klose beschließt, dass ihr das Mut macht. „Ich bin doch nicht wieder aufgewacht, um zu sterben!“ Der Fortschritt nach fünf Wochen Klinikaufenthalt besteht darin, dass sie ihre linke Hand und einen Zeh am linken Fuß wieder bewegen kann.
Dann ging es zur Reha vermittelt übrigens von Eltern ihrer Schüler. Dort wird sie mit Kortison behandelt, an den Rollstuhl gewöhnt und täglich mit Physiound Ergotherapie gequält. Ja, gequält. Manchmal ging es ein paar Wochen aufwärts, manchmal stagnierte die Entwicklung, manchmal gab es Rückschritte. Nach einem Dreivierteljahr Reha kann sie mit Unterstützung immerhin aufstehen, ihre linke Hand und das linke Bein bewegen, auch der rechte Arm macht Fortschritte. Robert, ihr Physiotherapeut, glaubt fest daran, dass sie in absehbarer Zeit zwei, drei Schritte allein gehen wird.

Seit Frühjahr 2014 lebt sie nun in einem modernen, hellen Wohnheim für Krankenund Intensivpflege der Dresdner Firma ASKIR. Sie hat hier ein Einzelzimmer mit Balkon und viel Platz für ihre sieben Sachen, für Fernseher, Musikanlage und Bürotechnik. Vieles hat sie aus ihrer Wohnung mitnehmen können sie musste sie auflösen. Sie wird dort nicht mehr leben können. Es war eine schmerzhafte Erkenntnis. Immerhin ist irgendwann vielleicht betreutes Wohnen drin.
Zunächst ist ihr aber hier am besten geholfen, sie fühlt sich wohl. Mandy Locke geht mit Kornelia Klose in ihrem Rollstuhl regelmäßig in den nahen Großen Garten, sie besuchen neuerdings auch Theatervorstellungen und Konzerte. Dieses Jahr waren sie schon bei Unheilig, Sarah Connor und Olaf Schubert. So kommt sie wieder unter Menschen, traut sich mehr zu, erlebt aber auch, wie unterschiedlich die Gesunden auf ihre Behinderung reagieren. Sie ärgert sich über manche Behördenmitarbeiter, „ die so tun, als würde nur noch fehlen, dass ich sabbere“. Sie freut sich aber auch, wenn Konzertbesucher dabei helfen, dass sie in ihrem Stuhl freie Sicht auf die Bühne bekommt.
Den nächsten Schritt ins normale Leben geht sie gerade, wenn auch noch tastend: Sie gibt Nachhilfeunterricht für Schüler, zunächst für die Kinder der Mitarbeiter des Wohnheims. Bio und Mathe. Mit einer Stunde pro Woche fing es an, jetzt sollen es schon drei bis vier werden. Gewissenhaft bereitet sie sich auf die Stunden vor, rollt zu ihrem Laptop auf dem Schreibtisch, druckt Unterlagen aus. Sie hat in der letzten Zeit gemerkt: Das strengt an, aber es geht! Sie kann es noch. Sie sagt selbst: „Es ist meine Rückkehr ins Leben.“
Kornelia Klose weiß inzwischen, dass da sogar noch mehr geht und sie durchaus stundenweise wieder an einer richtigen Schule unterrichten könnte. Allerdings verlangt das umfangreiche und langwierige Vorbereitungen. Es muss eine behindertengerechte Schule sein. Sie braucht einen Arbeitsassistenten, der ihr hilft und einen Fahrdienst. Für all das muss sie einen Antrag auf Teilhabe am Arbeitsleben stellen, und das Jobcenter muss den genehmigen. Der erste wurde schon mal abgelehnt. Aber sie wird nicht aufgeben und den nächsten Antrag stellen. „Und wenn der wieder abgelehnt wird, dann schalte ich einen Anwalt ein.“ Alle beteiligten Behörden sollten sich schon mal warm anziehen. Sie können sich darauf einstellen, dass jemand wie sie das Kämpfen gelernt hat und gewiss nicht so schnell klein beigibt.

Betreuerin Mandy Locke freut sich mit ihr über all die Fortschritte und wie sie nach und nach gelernt hat, sich durchzubeißen. Aber sie lässt auch durchblicken, dass sie Konny, wie sie hier alle nennen, schwer vermissen würde. „Sie unterstützt die anderen Mitbewohner sehr, sie macht ihnen Mut. Sie ist ganz wichtig hier“.
„Ach“, meint Kornelia Klose verschmitzt, „ihr werdet mich jetzt sowieso nicht mehr so oft sehen. Ich habe ja jetzt mein E-Book“.

 

Fortsetzung
„Kopf in den Sand? Nö, keine Zeit.“

Vor einem Jahr schilderte Kornelia Klose, wie sie nach dem Mittagsschlaf gelähmt aufwachte. Jetzt hat sie eine eigene Wohnung und gibt Nachhilfeunterricht.

Ein Jahr nach unserem ersten Treffen empfängt uns Kornelia Klose im Speiseraum, nicht mehr im Wohnheimzimmer der Dresdner Firma Askir für Kranken- und Intensivpflege. Sie wohnt zwar noch im selben Haus, weil sie sich hier wohlfühlt. Aber es hat sich Entscheidendes verändert.

„Kommen Sie mit in mein Reich“, bittet sie, und kurvt auch gleich los mit ihrem Rollstuhl Richtung Aufzug. Im Obergeschoss angekommen, schließt sie die Tür zu einer hellen Wohnung mit großzügigem Wohnraum und extra Schlafzimmer auf. Einige Möbel konnte sie aus ihrer früheren Wohnung nutzen. Kochen kann sie in ihrer neuen Küche noch nicht, das wäre zu gefährlich für sie. Aber Abendbrot machen geht schon. Solche Fortschritte konnte sie sich vor gar nicht so langer Zeit nicht vorstellen.

Vor vier Jahren erlebte sie einen Albtraum. Nach einem Mittagsschlaf war sie gelähmt aufgewacht, hatte sich gerade noch aus dem Bett rollen können und dann stundenlang hilflos auf dem Boden gelegen. Damals dachte sie: Das war’s wohl jetzt. Eine Freundin fand sie. Die Ärzte diagnostizierten eine Entzündung in der Wirbelsäule, die das Rückenmark zerstör- te. Es begann ein Leben im Rollstuhl.

Erst musste sie ihren geliebten Lehrerberuf aufgeben, dann die eigene Wohnung, was für sie fast noch schlimmer war. Aber Kornelia Klose ließ sich nicht unterkriegen, kämpfte um jeden Fortschritt, auch wenn er noch so klein war.

Vor dem Umzug ins betreute Wohnen im Frühjahr allerdings hatte sie eine Heidenangst, konnte kaum noch schlafen. Klar, tagsüber ist rasch Hilfe zur Stelle, wenn sie welche braucht. Aber wie kommt sie ins Bett? Allein geht das nicht. Was, wenn nachts etwas passiert? Aber die Betreuer beruhigten sie, sie bekam eine Nachtklingel. Dann wäre, im Fall des Falles, in einigen Minuten Hilfe zur Stelle. Sie ließ sich überzeugen und wagte den Schritt. Heute kommt sie schon ziemlich gut klar mit sich und dem Haushalt. Erst kürzlich entkorkte sie zum ersten Mal wieder eine Weinflasche. Und sie kann auch wieder Bücher halten, obwohl sie nach wie vor am liebsten im Kindle liest, der aus Lichtblick- Spenden finanziert wurde.

Vor einem Jahr begann Kornelia Klose wieder mit Nachhilfeunterricht. Den baute sie inzwischen aus und hat nun mit Vor- und Nachbereitung gut zu tun. 450 Euro darf sie monatlich hinzuverdienen. Außerdem begann sie ein Fernstudium für Legastheniker-Training. Künftig will sie Kindern mit einer ausgeprägten Lese- und Rechtschreibschwäche helfen. Ist das nicht ganz schön verwegen mit ihrer Behinderung? „Soll ich etwa den Kopf in den Sand stecken? Nö, dazu habe ich keine Zeit.“

Autor: Olaf Kittel

 

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