Es war in einer der ersten Arbeitswochen. Elisa Göbel erinnert sich gut. Sie hatte Bereitschaftsdienst. Der Anruf kam abends. Die Polizei hatte an einer Haltestelle eine Fünfzehnjährige aufgegriffen. Sie wollte auf keinen Fall in die Wohnung zurück. Nicht zum Notdienst. Die Eltern würden die Adresse kennen. Ob man helfen könne. Gerade war ein Bett frei geworden. Ein Glücksfall. Jede Woche kommen fünf, sechs Anfragen, mal mehr und mal weniger. Die Kollegin vom Nachtdienst legte Zahnbürste und Zahnpaste bereit und zwei Handtücher, suchte Bettwäsche raus. Eine halbe Stunde später war die Polizei da. Kein Blaulicht. Kein Aufsehen. Kein Name. Kein Ort. Die Anonymität soll Mädchen zwischen zwölf und siebzehn in akuter Not schützen. Vor Gewalt. Mord. Verschleppung. Zwangsheirat. Oder Suizid. Elisa Göbel ist nur ein paar Jahre älter als die Betroffenen. Noch in der Nacht hat sie das Aufnahmegespräch geführt mit Sylvie, wie wir sie nennen.
Dresden verpflichtet sich, ein „angemessenes Angebot“ für Frauen und Kinder zum Schutz vor Gewalt bereitzustellen. Das ist nicht zum Raussuchen. Die Bundesrepublik hat die Istanbul-Konvention des Europarats unterzeichnet. Es ist der bisher umfassendste Menschenrechtsvertrag gegen geschlechtsspezifische Gewalt. Das Abkommen gilt seit Februar 2018 als Bundesgesetz. Seitdem dröseln Länder und Kommunen die Vorgaben auf zu Prävention, Intervention, Schutz und Sanktion. Ab 2032 wird in Deutschland das Recht auf Schutz vor geschlechtsspezifischer Gewalt einklagbar sein.
Dann ist Sylvie erwachsen. Dann hat sie vielleicht ihre traumatische Kindheitserfahrung verkraftet. Das liegt auch bei Elisa Göbel, 26, Sozialpädagogin, Mitarbeiterin der Anonymen Mädchenzuflucht Dresden. „Wir bieten Sicherheit rund um die Uhr, Hilfe in jeder Hinsicht und vor allem Vertrauen“, sagt sie. „Wir arbeiten parteiisch und glauben den Mädchen, die zu uns kommen. Es gibt immer einen Grund, wenn sie weg wollen von zu Hause. Jugendliche sind Expertinnen ihrer eigenen Lebenswelt.“ Manche melden sich selbst. Andere werden von Jugendamt, Schulsozialdienst, Kinder- und Jugendpsychiatrie oder der Polizei vermittelt. Freiwilligkeit ist das Prinzip der Zufluchtsstätte.
Es kommt vor, dass Freundinnen oder Lehrkräfte eine Gefahr signalisieren. Wenn eine akute Selbst- oder Fremdgefährdung droht, schaltet Elisa Göbel oder eine ihrer Kolleginnen den Rettungsdienst ein. Sie sind rund um die Uhr erreichbar. In der Dresdner Mädchenzuflucht arbeiten elf Sozialpädagoginnen, eine Hauswirtschaftskraft und drei Aushilfen. Eine Chefin gibt es nicht. Wichtige Entscheidungen werden gemeinsam getroffen. Basisdemokratie und Selbstverwaltung prägen von Anfang den Verbund Sozialpädagogischer Projekte. Er wurde im November 1990 gegründet und bezahlt Mitarbeiterinnen und Miete der Dresdner Mädchenzuflucht. Das Jugendamt finanziert Lebensmittel, Hygieneartikel und Taschengeld.
Spenden kommen hinzu. Zum Beispiel eintausend Euro von der Stiftung Lichtblick für einen Kleider-Jahresfonds. Am dringendsten wird Unterwäsche gebraucht, sagt Elisa Göbel. „Die meisten Mädchen haben nichts, wenn sie zu uns kommen.“ Es gibt zwei Kleiderschränke, aus denen sie sich etwas nehmen können. Oder sie fahren mit ihrer Betreuerin zu einem Umsonst-Laden. Eine Teddyfelljacke wäre schön. Mode ist nicht das Erste, was die Mädchen interessiert.
Jede Bewohnerin der Zuflucht hat Gewalt erlebt, psychische, physische, sexuelle, sagt Elisa Göbel. „Alle Formen sind gleichermaßen schlimm, wir hierarchisieren da nicht.“ Gewalt wird weit gefasst. Weiter, als mancher ahnt, der mit der Faust auf den Tisch schlägt und Gehorsam verlangt. Patriarchale Rollenbilder werden wieder verstärkt propagiert. „Was wir erleben, ist ein Spiegel der Gesellschaft“, sagt die Sozialpädagogin.
Es ist Gewalt, wenn ein Kind gedemütigt wird oder emotional vernachlässigt. Wenn es abgewertet wird in seinem Können und Fühlen. Wenn Wünsche und Bedürfnisse nicht ernst genommen werden. Man kennt die Sprüche. Aus dir wird sowieso mal nichts, reiß dich zusammen, heul hier nicht rum, halt die Klappe, solange du die Füße unter meinen Tisch steckst … Manche Väter nähen GPS-Tracker in die Kleidung ihrer Töchter, um sie kontrollieren zu können. „Alle Mädchen bei uns wurden Opfer von Grenzverletzungen. Manche begreifen das erst hier. Wir ermutigen sie, für sich einzustehen“, sagt Elisa Göbel. Sie hat an der TU Dresden ihren Master gemacht und arbeitet seit August 2024 in der Mädchenzuflucht. Die Sozialpädagoginnen und -arbeiterinnen teilen sich in die Schichtdienste, begleiten die Mädchen zu Gesprächen mit Lehrern, Ämtern, Ärzten und Therapeuten, organisieren den Alltag bis hin zum Taschengeld. Siebzehnjährige erhalten den höchsten Satz. Drei Euro zehn pro Tag. Freitags wird ausgezahlt.
Sylvie, erzählt Elisa Göbel, machte bei der Ankunft einen gestressten Eindruck. Die Eltern hätten sie bestraft mit drei Wochen Hausarrest. Sie habe nach der Schule sofort nach Hause kommen müssen, das Handy abgeben, in der Küche alleine essen. Nur weil sie ein paarmal nicht pünktlich von einer Party zurück war. An jenem Abend seien die Eltern ausgegangen. Sylvie sei aus dem Fenster geklettert, über einen Zaun ins Nachbargrundstück und fort.
Zoff zwischen Kindern und Eltern kommt vor. Pubertät ist eine herausfordernde Erfahrung für alle Seiten. Doch dass ein Mädchen die eigene Familie fürchtet und Fremde um Hilfe bittet, passiert selten. Sylvie hat schon einmal den Notdienst gerufen. Das Gesetz ist auf ihrer Seite. „Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.“
Die Eltern werden über die „Inobhutnahme“, so der Fachbegriff, informiert. Sie erhalten wöchentlich einen Bericht, wie es der Tochter geht. „Ich erlebe oft eine große Hilflosigkeit bei den Eltern“, sagt Elisa Göbel. „Viele haben nicht gelernt, Konflikte angemessen zu lösen.“
Das sei unabhängig von Herkunft, Geld, Religion oder sozialem Status.
Das Jugendamt verantwortet die Fälle, vermittelt zwischen Eltern und Kindern. „Solche Gespräche brauchen Zeit. Eltern folgen oft alten Rollenmustern und werden durch den Protest ihrer Töchter mit eigenen Unzulänglichkeiten konfrontiert“, sagt Elisa Göbel. Manche suchen Hilfe in Beratungsstellen. Andere legen gegen die „Inobhutnahme“ Widerspruch ein. Dann geht der Fall vors Familiengericht. Experten aus dem Kinder- und Jugendbereich hadern oft mit der Justiz. Die Instanzen seien nicht ausreichend sensibilisiert für geschlechtsspezifische Gewalt. Sie würden Elternrechte höher achten als Kinderrechte. Für den Staat ist eine Rückkehr in die Familie allemal billiger.
Bis sich eine Lösung findet, können die Mädchen bleiben. Das kann drei Wochen dauern oder drei Monate. Sie bilden eine Gemeinschaft auf Zeit. Danach wechseln sie wie Sylvie in eine WG. Andere werden in einer Einzelwohnung ambulant betreut. Manche gehen zu Verwandten. Oder zurück. „Es ist schwer, sich aus einem Abhängigkeitsverhältnis zu lösen. Neben Wut und Trauer gibt es immer noch Liebe, wenn vielleicht auch nur zu einem Elternteil oder zu Geschwistern“, sagt Elisa Göbel.
Die Anonyme Mädchenzuflucht hat sechs Betten. Das Frauen- und Kinderschutzhaus bietet 14 Plätze und vier barrierefreie in einer Wohnung. Damit liegt Dresden deutlich unter der von der Istanbul-Konvention empfohlenen Quote von mindestens 30 Familienplätzen. Der Stadtrat muss entscheiden, wie viel Schutz vor Gewalt er für „angemessen“ hält. Und für bezahlbar.
Notfallkontakt: 0351/251 99 88 oder zuflucht@vsp-dresden.org
Text: Karin Großmann