Sie weiß es noch ganz genau: Sieglinde Bach* saß am 2. Juni vor ihrem Computer und wollte eine Mail schreiben. Da gingen auf einmal auf dem Bildschirm mehrere Fenster auf: „Sie haben einen Virus“, stand da zu lesen. Nichts ging mehr. Die Fenster ließen sich nicht schließen. Frau Bach fuhr den PC herunter und startete ihn neu. Die Fenster waren immer noch da. Jetzt geriet sie in Panik. Was, wenn ihr Computer kaputt wäre? Geld für einen neuen hat sie nicht.
Da tauchte am unteren Bildrand eine Textzeile auf: „Microsoft-Service“ plus Telefonnummer. Das könnte die Rettung sein, dachte Frau Bach, und rief an. Ein Mann meinte in gebrochenem Deutsch: „Ich helfe Ihnen.“ Ach, wie gut, dass es hilfreiche Menschen gibt, dachte sie.
Sie sollte nun erst einmal ein paar Tasten drücken. Der Bildschirm wurde blau, es erschienen rätselhafte Schriftzeichen. Später wurde ihr klar, dass der Mann von nun an Zugriff auf ihren PC hatte.
Haben Sie Facebook? Haben Sie Online-Banking?, fragte er. Und Frau Bach, dankbar für die scheinbare Hilfe, sagte stets ja. Dann zeigte er ihr auf dem Bildschirm eine lange Liste mit Namen, die angeblich alle Zugriff auf ihre Accounts hätten. Das wollte Frau Bach natürlich nicht länger hinnehmen. Deshalb, erklärte der Mann weiter, müssten jetzt die Passworte geändert werden. Auch fürs Online-Banking.
Gesagt, getan.
Danach ging der Mann an ihr Konto und überwies 1 499 Euro irgendwohin. „Das ist nur vorübergehend“, meinte er. „Bekommen Sie morgen wieder.“ Sie sollte den Betrag auf dem Handy freigeben. Jetzt zögerte Frau Bach lange, ihr schien doch etwas faul an der Sache. „Bekommen Sie morgen wieder“, besänftigte der Mann. „Aber Sie dürfen den PC erst morgen 9 Uhr wieder einschalten.“ Jetzt wollte sie die leidige Angelegenheit nur noch schnell hinter sich bringen. Sie gab die Summe frei.
Die 1 499 Euro waren am nächsten Tag nicht wieder drauf, ihr Bankkonto nun 1 000 Euro im Minus. Sie hatte am 2. Juni nach Abzug der Miete noch 500 Euro zum Leben für den laufenden Monat. Frau Bach bekommt 790 Euro netto Rente und 170 Euro vom Sozialamt.
Es war ein Schock. Die Überweisung rückgängig machen ging nicht. Sie rief bei ihrer Bank an. Dort riet man zur Anzeige. Außerdem wolle man sehen, ob noch was zu machen wäre, damit sie ihr Geld zurückbekommt. Von der Polizei hat sie seither nichts mehr gehört, von der Bank auch nicht.
Was sollte nun werden? Rücklagen hat Frau Bach nicht. Und Hilfe von anderen annehmen wollte sie auch nicht. „Ich hab` mich ja so geschämt! Ich hätte nie gedacht, dass mir so etwas jemals passieren kann.“ Zumal ihr Sohn als Programmierer arbeitet und es nicht fassen konnte, dass sie sich nicht sofort an ihn gewendet hat. „Mutter, wie konntest Du nur.“ Er hat inzwischen ermittelt, dass der Anruf aus den USA kam.
Dabei ist Sieglinde Bach sicher keine besonders leichtgläubige Person, sie hat in ihrem Leben einiges durch, musste zu allen Zeiten sehr vorsichtig mit ihrem Geld umgehen. In der Lausitz aufgewachsen lernte sie Stepperin in einer Schuhfabrik in Großharthau. Sie heiratete DDR-typisch mit 19, bekam mit 21 ihren Sohn und wurde mit 23 geschieden. Der Schuhherstellung und später der Schuhreparatur blieb die Alleinerziehende treu bis zur Wende, die allerdings viele Schuhfabriken nicht überlebten, auch ihre PGH nicht.
Frau Bach musste sich im vereinten Deutschland beruflich neu orientieren und schlug sich dann vor allem mit Minijobs als Textilverkäuferin durch. Sie hat da viele Enttäuschungen erlebt und kann gut nachvollziehen, warum in Pirna immer wieder Geschäfte schließen müssen, einfach weil der Umsatz nicht ausreicht.
„Mich hat das ganze Leben angeschissen“, meint sie recht drastisch.
Aber weinerlich ist sie keineswegs, resignieren nicht ihre Sache. Sie entdeckte ihr Herz für die soziale Arbeit, war lange Alltagsbegleiterin für alte Menschen, hat mit 61 einen Bundesfreiwilligendienst absolviert, engagiert sich ehrenamtlich in einem Mehrgenerationenhaus, übernahm einen Töpferkurs. „Das macht mir großen Spaß, ist Erfüllung für mich.“ Frau Bach ist heute eine aktive und lebendige Frau, die Spaß in ihrer Nähgruppe hat und viel mit Freunden unterwegs ist. Und die gelernt hat, mit wenig Geld über den Monat zu kommen.
Nur: Wie sollte sie die 1 000 Euro Schulden begleichen? Hilfe wollte sie ja eigentlich keine annehmen. Aber die Schwiegertochter und eine gute Freundin liehen ihr etwas Geld für den Übergang. Und die Freundin gab ihr den Rat, sich an die Opferhilfe in Pirna zu wenden, Frau Bach war die Einrichtung bis dahin nicht einmal bekannt. Sie gingen gleich gemeinsam dorthin. Die Mitarbeiterinnen dort wissen, wie man diskret und einfühlsam mit Opfern von Straftaten umgeht und finden oft einen guten Weg aus dem Dilemma.
Einen solchen Weg fand die Opferhilfe Pirna auch für Frau Bach. Gemeinsam stellten sie einen Antrag auf Unterstützung durch die Stiftung Lichtblick. Aus Spendenmitteln der Leser der Sächsischen Zeitung wurden Frau Bach 500 Euro zur Begleichung eines Teils der Schulden überwiesen. „Das hat mir sehr geholfen“, sagt Frau Bach. „Ich bin sehr dankbar dafür!“ Die anderen 500 Euro, die sie geliehen hat, zahlt sie nun Monat für Monat von ihrer kleinen Rente zurück.
„Wie konnte mir das nur passieren?“ Dieser Satz geht ihr auch Monate später nicht aus dem Sinn. Und es ist ihr kaum ein Trost, dass sie nicht die Einzige ist, der so etwas passiert. Jeden Tag versuchen Banden, Menschen über das Internet um ihr Geld zu bringen, in Deutschland allein 2024 in 743 000 Fällen. Jeder vierte Deutsche wurde schon zum Opfer.
Sieglinde Bach rät aus bitterer Erfahrung, sich äußerst vorsichtig im Internet zu bewegen und sehr skeptisch auf angeblich lukrative Angebote zu reagieren. Und sie hat noch einen Rat: „Leider kann das auch auf Servicetelefone zutreffen. Microsoft zum Beispiel hat so etwas gar nicht. Jetzt weiß ich das.“
Text: Olaf Kittel
* Name auf Wunsch von der Redaktion geändert.