Er liebt diesen Fensterplatz im Wohnzimmer seiner neuen Wohnung in der 16. Etage in Dresden-Prohlis. Von hier aus hat er einen fantastischen Blick vom Fernsehturm über die Sächsische Schweiz bis zu den Höhen im Dresdner Süden. Lutz Göschel braucht diesen Blick ins Grüne, er kann davon nicht genug bekommen. Deshalb hat er Balkon und Wohnzimmer auch noch mit reichlich Grünpflanzen und allerlei frischen Kräutern vollgestellt. Grün als Balsam für die Seele.
Im beständigen Auf und Ab seines Lebens hat der heute 59-Jährige in den vergangenen zwei Jahren absolute Tiefpunkte erlebt. Gerade hatte er sich noch in Dresden mit einem italienischen Eiscafe eine neue Existenz aufgebaut, da vermasselte ihm erst eine Baustelle vor dem Cafe das Geschäft und dann Corona. Und plötzlich konnte er nicht mehr laufen. Die Ärzte diagnostizierten einen Charcot-Fuß, eine Krankheit, die vor allem Diabetiker trifft. Die Füße werden erst schmerzunempfindlich, dann brechen die Fußknochen, ohne dass es die Patienten sofort merken. Ein Fuß Göschels brach vier Mal längs. Seitdem sitzt er im Rollstuhl, kann selbst nur noch wenige Schritte hinter dem Gefährt herlaufen. Nach der Diagnose konnte er seine alte Wohnung im Dachgeschoss ein halbes Jahr lang nicht mehr verlassen. Er trägt jetzt stahlbewährte große Stiefel, die er nur nachts ausziehen kann. Seine Freundin, mit der er das Cafe betrieben hatte, hielt das alles nicht aus und ging.
Lutz Göschel sagt: „Zeitweise wollte ich ein Ende sehen.“ Dabei sah es lange so aus, als sei ihm ein Leben in festen Bahnen vorbestimmt. Aufgewachsen ist er in Zwickau, die Backstube des Vaters war sein zweites Zuhause. Hier lernte er nach der Schule das Bäckerhandwerk, nebenbei spielte er begeistert Fußball und brachte es immerhin zu einem Spiel in der damaligen Oberliga-Mannschaft von Sachsenring Zwickau. In der Wendezeit absolvierte er den Meisterlehrgang, der „mit Marxismus/Leninismus begann und mit Marktwirtschaft endete“. Anschließend übernahm er das gut gehende Geschäft mit immerhin sechs Angestellten vom Vater.
Den ersten Absturz erlebte er Anfang der 90er Jahre, als vier Herren in dunklen Anzügen an seiner Tür klingelten und sich als Vertreter des Hauseigentümers vorstellten. Sie boten ihm drei Möglichkeiten zur Wahl. Erstens den Hauskauf für eine Million DM. Zweitens eine monatliche Pacht über 5.000 DM. Oder drittens der Auszug. Lutz Göschel sah nicht wirklich eine Wahl. Er entließ seine Mitarbeiter, meldete das Gewerbe ab und zog aus.
Der junge Bäckermeister suchte eine neue Perspektive und fand sie in einem Tiefbauunternehmen eines Freundes. Er fuchste sich ein in die neue Materie und arbeitete dann dort viele Jahre als Bauleiter. Irgendwann gab es aber Zoff in der Firma, er ging. Es folgte eine Phase der Arbeitslosigkeit und des Ausprobierens verschiedener Jobs. So richtig liefen die aber alle nicht.
2017 sollte dann die Wende bringen für ihn. Lutz Göschel hatte eine Freundin kennengelernt, mit ihr verließ er die Heimatregion, sie zogen gemeinsam nach Dresden. Seine langjährige Ehe wurde geschieden. Jetzt wollte er noch einmal ganz von vorn anfangen. Den Erlös aus dem Verkauf seines Hauses bei Zwickau investierte er in das Eiscafe an einer belebten Einkaufsstraße in Dresden. Aber dann kam die Dauerbaustelle, dann Corona und dann die Charcot-Diagnose. Es folgten weitere gesundheitliche Rückschläge, zwei Notoperationen, eine schlimme Hautallergie, schließlich kamen schwere Depressionen hinzu.
Als rettender Engel tauchte ein Betreuerin vom Gesundheitsamt Dresden auf. Sie gab ihm Halt, half über allerlei bürokratische Hürden hinweg. Und als er schließlich die neue Wohnung mit dem tollen Blick in Prohlis im Netz gefunden hatte, war sie es, die sie für ihn besichtigte und ihm mit einem Video die Entscheidung erleichterte.
Seit einem Jahr wohnt Lutz Göschel jetzt in der neuen Wohnung, die er mit dem Fahrstuhl selbstständig verlassen kann. Mit dem Rollstuhl fährt er zu seinem Auto. Der Wagen ist zwar alt und läuft so gerade noch, und seine schweren Stiefel sind beim Gasgeben und Kuppeln schon eine Herausforderung. Aber er bekommt das inzwischen hin. Er trainiert jetzt auch, hinter seinem Rollstuhl zu laufen. Sein persönlicher Rekord sind 200 Meter bis zum Einkaufszentrum. „Dann allerdings zitterten die Knie und ich war fix und fertig.“ Daheim hat er begonnen, mit Hanteln zu trainieren, um die erschlafften Muskeln wieder aufzubauen. Außerdem will er 20 Kilo Übergewicht loswerden, die er vor allem durch den Bewegungsmangel zugelegt hat. Er isst jetzt nur noch eine Mahlzeit am Tag. Es geht alles noch schwer, aber es wird besser. Lutz Göschel sieht nach dem Absturz erste Lichtblicke.
Für einen solchen hat auch die Stiftung Lichtblick gesorgt. Mit Spenden der Leser der Sächsischen Zeitung konnte Lutz Göschel einen Teil seiner Einbauküche finanzieren, behindertengerecht eingebaut. „Ich bin sehr froh darüber und bedanke mich bei den Spendern herzlich“, sagt er.
Inzwischen ist Lutz Göschel auch wieder in der Lage, vorsichtig nach vorn zu schauen, auch wenn ihm dabei schon recht mau ist, vor allem wenn er an seine finanzielle Absicherung denkt. Er würde gern Erwerbsminderungsrente beantragen, aber das wird wohl nichts, weil er als Selbstständiger in den vergangenen drei Jahren nicht eingezahlt hat. Es wird wohl auf Existenzsicherung hinauslaufen. Die Betreuerin vom Gesundheitsamt, der rettende Engel, bemüht sich gerade um eine Klärung. Und sie versucht, für ihn einen Arbeitsplatz in einer Behindertenwerkstatt zu finden. „Das wär’s“, meint Lutz Göschel, „endlich wieder was Nützliches tun, unter Menschen kommen, am Leben teilnehmen. Es wäre sehr wichtig für mich.“ Schließlich hat er ein Hobby wiederentdeckt, dass ihm neuen Lebensmut gibt. Vor einigen Wochen kaufte er sich ein sehr preiswertes Keyboard und greift nun ordentlich in die Tasten. In Kindertagen lernte er bei seinem Bäckervater, der in der Kapelle „Blaue Schwalben“ zum Tanz aufspielte, das Klavierspielen. Damals hatte er wenig Lust dazu, heute ist er froh darüber, es gelernt zu haben. Jetzt spielt er alte und neue Hits, komponierte die ersten Stücke selbst und präsentiert sie gern. Sie klingen gar nicht schlecht - und sogar ein kleines bisschen heiter.
Autor: Olaf Kittel