Ohne Weihnachten?

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Im September brachte Vitoria C. ihren Sohn Matteo zur Welt. Eine schwierige Schwangerschaft lag hinter der 45-Jährigen, die Ärzte hatten ihr früh mitgeteilt, dass das Kind wohl mit Behinderungen leben muss. Sie hatte sich trotzdem sehr auf das Kind gefreut. Nach der Geburt hielt sie den Jungen bang, aber glücklich im Arm. Nach 23 Minuten hörte er auf zu atmen. Seither gibt es immer wieder Tage, an denen es ihr schlecht geht. Dann weint sie viel, sie möchte sich zurückziehen, keinen anderen Menschen sehen. Dann wünscht sie sich sehnlich, die Adventszeit samt Weihnachten mögen dieses Jahr ausfallen. Das geht aber nicht.
Es gibt viele Gründe. Sieben davon schwirren unentwegt um sie herum. Ihre drei Jungs und vier Mädchen sind zwischen zwei und 14 Jahre alt und freuen sich auf Weihnachten, die süßen Pfefferkuchen, die Geschenke. Den Schwibbogen haben sie schon ins Fenster gestellt, der Weihnachtsbaum liegt im Garten bereit. Vitoria C. kann sich gerade nicht mit ihnen darüber freuen, aber sie weiß schon, dass sie funktionieren muss. Irgendwie wird sie es hinbekommen.
Es gibt noch einen Grund, warum das Fest nicht ausfallen darf.: Weihnachten war in ihrer eigenen Kindheit verboten. Wenn früher in der Kita Plätzchen gebacken wurden oder später in der Schule die Weihnachtsgeschichte auf dem Programm stand, musste sie wegbleiben. Wenn die Klasse Laternen bastelte und sie ihre freudestrahlend nach Hause brachte, warf die Mutter sie auf den Müll. Es gab keine Geschenke, keinen Baum, keine Familienfeier. Noch heute treibt es der gestandenen Frau die Tränen in die Augen. Ihre Kinder sollen so etwas nie erleben.
Ihre Eltern sind Gastarbeiter aus Südeuropa, ihr Vater verdiente im Westen Deutschlands sein Geld, die Mutter wurde schon nach wenigen Jahren in der neuen Heimat von den Zeugen Jehovas angeworben. Sie lehnen Weihnachten genauso ab wie Geburtstagsfeiern oder Freundschaften außerhalb der Sekte. Vitoria wuchs mit den Untergangsszenarien der Zeugen Jehovas auf und der ewigen Angst, nicht ins Paradies zu gelangen, wenn sie nicht tut, was von ihr verlangt wird. Selbst vor Alltagsentscheidungen suchte ihre Mutter nach den passenden Bibelstellen. Mit 16 wurde sie als „Schwester“ aufgenommen und hatte „Predigtdienst“ zu leisten: Von Tür zu Tür ziehen und große Reden schwingen. Den ganzen Sonnabend lang, zwei Stunden am Sonntag, jede Woche. Wer 60 Stunden schaffte, bekam eine Auszeichnung.
Mit 20 wollte sie nur noch weg. Sie lernte einen medizinischen Beruf, heiratete jung. Die Ehe blieb kinderlos, nach nicht einmal acht Jahren starb ihr Mann ganz plötzlich. Einige Jahre später lernte sie ihren heutigen Mann kennen, einen Arzt mit eigener Praxis, 20 Jahre älter als sie, er stammt aus der Oberlausitz. Auch er sehr allein. Sie bleiben zusammen. Bei einem Besuch in seiner Heimat verlieben sie sich in ein altes Fachwerkhaus. Das wär`s doch als Alterssitz, denken sie und ahnen nicht, wie schnell er gebraucht wird. Denn ihr Mann erkrankt, kann seinen Beruf nicht mehr ausüben, es folgt die Insolvenz. Sie beziehen das unsanierte Haus ohne Heizung, da war Vittoria C. gerade zum ersten Mal schwanger. Beide müssen plötzlich von Hartz IV leben. Ein Schock.
Das Ehepaar wollte so schnell wie möglich raus aus der Lage, und schaffte das tatsächlich auch. Er kämpfte jahrelang um seine Erwerbsunfähigkeitsrente, sie nahm Minijobs an. Fast zwei Jahre trugen beide abwechselnd die Sächsische Zeitung aus. Gleichzeitig sanierten sie das Haus. Und die Familie wuchs. Zwei, drei Kinder sollten es eigentlich nur sein, aber Vitoria wollte mehr. „Ich bin gern Mutter“, sagt sie, ganz ohne Pathos. Sie findet es sehr schade, dass große Familien aus der Mode gekommen sind. Sie will ihren Kindern geben, was sie selbst daheim so vermisst hat: Freude, Liebe, Freiheit. Abends nimmt sie sich nach einem langen Tag noch zwei bis drei Stunden Zeit, um sie alle sieben ins Bett zu bringen, sich ihre kleinen Sorgen anzuhören und allen eine Geschichte zu erzählen. Manchmal ist ihr Mann sauer, wenn sie erst gegen 22 Uhr ins Wohnzimmer kommt und aufs Sofa fällt.
Die Arbeitsteilung klappt ziemlich gut. Ihr Mann kümmert sich um Haus und Garten, das Saubermachen eingeschlossen. Ihr Großer sammelt Holz für die Heizung, eine Tochter badet die Kleinen, der mittlere Sohn saugt Staub, ohne extra Aufforderung. Aber die meiste Arbeit bleibt an Frau C. hängen. Das Einkaufen für neun Personen zum Beispiel. Alle zwei Tage muss sie los, wenn das Brot und die vielen Brötchen schon wieder aufgegessen sind. Meistens fährt sie über die Grenze nach Tschechien, hier ist es nach wie vor viel billiger. „Dort bekomme ich oft für 100 Euro das, wofür ich in der Lausitz 300 Euro benötigen würde. Und manchmal können wir uns was leisten, was sonst nicht ginge. Denn auch wenn bei uns das Geld knapp ist: Hungern und frieren kommen nicht infrage.“
Schwierig wird es schon manchmal, wenn plötzlich 78 Euro für eine Buskarte fällig werden oder gleich mehrere Kinder neue Schuhe brauchen. Die Teenies kommen schon mal mit Ansprüchen, die sie nicht erfüllen kann. Und manchmal denkt Vitoria C: Hoffentlich ist morgen das Kindergeld auf dem Konto. Sie hat sich schon mal 100 Euro von ihrem Ältesten geborgt, der fleißig Zeitungen austrägt und sein Geld spart. So etwas kann vorkommen, wenn wieder die Waschmaschine kaputt geht, die mindestens zehn mal in der Woche läuft.
In solchen Fällen wünscht sich Sozialberaterin Beatrix Panitz von der Diakonie Löbau-Zittau, dass Frau C. öfter mal zu ihr findet. „Aber sie ist eine stolze Frau, sie kommt sehr, sehr selten. Ich ziehe den Hut vor ihr, wie sie das alles schafft.“ Sie geht auch mit sieben Kindern noch putzen, um auf Hartz IV verzichten zu können.
Als ihr Matteo starb, wusste sie nicht weiter. 1 500 Euro kostete die Beerdigung. Die Familie bezahlte die Rechnungen zunächst mit dem Geld, das sie für zwei Raten des Hauskredits zurückgelegt hatte. Aber irgendwann wollte auch die Bank ihr Geld. Also ging Vitoria C. zu Frau Panitz und bat doch um Hilfe. Die Diakonie stellte einen Antrag bei der Stiftung Lichtblick auf Übernahme von 700 Euro. Die Stiftung reagierte rasch und übernahm sogar 1 000 Euro. Vitoria C. war gerührt: „Ich bin sehr, sehr dankbar für die Hilfe. Jetzt muss es aber wieder allein gehen.“
Leicht wird das nicht, denn Weihnachten ist dieses Jahr nicht nur eine emotionale Herausforderung, sondern wie immer auch eine finanzielle. Ein Sohn wünscht sich ein ferngesteuertes Auto, eigentlich ein zu großes Geschenk. Eine Tochter träumt von Kosmetik, eine andere von einer Staffelei. Sieben Präsente sind aber nur aufzubringen, wenn wenigstens ein Teil im preiswerteren Ausland zu beschaffen ist. Ihr Mann ist da zum Glück findig, es sieht also ganz gut aus für den Gabentisch.
Jetzt denkt Vitoria C. darüber nach, was sie auf die Festtafel bringen kann. Am Weihnachtsabend wird es wohl Würstchen und Kartoffelsalat geben, zum Glück ist das preiswerte Essen Tradition in Sachsen. Aber ob es für Weihnachtsgänse reicht? Eine allein langt ja nicht. Frau C. hat den Kilopreis auf den Cent genau im Kopf, auch den tschechischen. Aber es ist trotzdem viel Geld. „Ich meide schon so oft es nur geht zu sagen: Geht nicht. Aber manchmal muss es sein.“
Die Alternative für den ersten Feiertag hat sie schon im Kopf: Hühnchen mit Kartoffeln aus dem Ofen, ein Rezept aus ihrer Heimat. Das mögen alle. Sie ist sicher: Die Kinder werden sich darauf freuen.

* Frau C. bittet um Verständnis, dass die Familie wegen der Schulkinder anonym bleiben will.

Autor: Olaf Kittel

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