Betti Rabel ist 40 Jahre jung, 27 Jahre nahm sie Drogen, man sieht es ihr nicht an. Roland Metzner, 39, brachte es auf über 20 Jahre extremer Suchterfahrung. Beide haben ein chaotisches Leben geführt. Ein Leben, dass die Vorstellungskraft der meisten Menschen übersteigt. Betti, sie bat darum, ihren Namen zu ändern, wuchs in Thüringen auf. Sie erinnert sich vor allem an die Gewalt des Vaters, der sehr schnell den Teppichklopfer zur Hand hatte – und an Stubenarrest. Immer wieder und immer wieder, auch bei nichtigem Anlass. Mit 13 probierte sie zum ersten Mal Cannabis, die Mutter und der ältere Bruder bauten die Droge selbst an. Sie ging nur noch ab und an zur Schule, es gab dafür wieder Stubenarrest. Sie fühlte sich daheim wie im Gefängnis. „Dann besorgte ich Koks, Crystal, alles, was die Umstände besser machte.“ Mit 17 ging sie freiwillig ins Heim und nahm nur ihren Hamster mit. „Mir war alles egal.“ Sie bekam 1.000 Euro monatlich Taschengeld von der Mutter und vom Onkel. Davon, behauptet sie, finanzierte sie ihren Drogenkonsum, der immer hemmungsloser wurde. Sie flog aus dem Heim, wurde schwanger, trieb ab. „Es war meine schlimmste Zeit. Ich wog nur noch 46 Kilo.“
Es folgte die erste Entgiftung und die erste Drogentherapie. Der Rückfall danach machte es noch schlimmer. Sie begann eine Ausbildung als Kinderpflegerin, nahm immer mal wieder eine Arbeit an und flog immer wieder raus. Sie zog oft um, weil sie ihrem Umfeld entfliehen wollte. Sie versuchte eine Familiengründung, bekam ihr erstes Kind. Als der Partner fremdging, war es vorbei. Dann versuchte sie es mit Alkohol statt Drogen. „War billiger.“ Betrunken verprügelte sie mit ihrer Gang zwei Bauarbeiter, weil die sie an ihren Vater erinnerten, sagt sie. Betti Rabel bekam als Rädelsführerin eine Haftstrafe. „Dort war ich clean, weil ich es wollte. Ich brauchte meine Ruhe. Und die hatte ich dort.“ Wieder draußen zog sie zu einem Freund, bekam zwei Töchter. Beide Eltern nahmen Drogen, es gab Gewaltausbrüche. 2016 wurden ihr die Kinder weggenommen, erst drei Jahre später durften sie zurück.
Dann geschah etwas, was ihr Leben verändern sollte: „Mein Freund fasste meine Mädchen an.“ Ihre Kinder wurden wieder in Obhut genommen, sie zeigte ihren Freund an. Dann kündigte sie ihre Wohnung in Dresden, begann eine Entgiftung in Bayern. Und stand sie durch. Anfang 2023 zog sie ins „Cleane Wohnprojekt“ in Dresden der Radebeuler Sozialprojekte, einer gemeinnützigen GmbH mit insgesamt 170 Mitarbeitern für viele Projekte in Sachsen. Inzwischen ist sie zum vierten Mal Mutter geworden. „Drogen sind jetzt für mich kein Thema mehr, ich gab auch das Rauchen auf. Ich habe hier eine Wohnung, kann frei über mein Geld verfügen und bekomme Hilfe bei der Erziehung. Es ist perfekt für mich.“ Es klingt wie ein Wunder. Gibt`s das öfter, nach so langem Drogenkonsum?
Wir fragen Roland Metzner nach seinen Erfahrungen, er hat das „Cleane Wohnprojekt“ bereits verlassen. Sein Leben ist nicht weniger dramatisch verlaufen. Er erzählt, wie es das erste Bier zur Jugendweihe gab. Dann trank er bis 19 „nur“ Alkohol. „Ich wuchs in einer normalen Familie in Borna auf, aber ich habe eine Tendenz zur Suchterkrankung.“ Er begann in Bayern eine Fleischerausbildung, dort nahmen die Lehrlinge Cannabis und synthetische Drogen. „Es war Leichtsinn und Gruppenzwang, ich wollte dazugehören. Ich fühlte mich dann stark und energiegeladen. Tagelang. Manchmal war ich drei Tage und Nächte lang wach.“ Irgendwann fiel es auf, er flog aus der Lehre. Zurück nach Borna in eine eigene Wohnung, der Papa besorgte eine neue Ausbildung als Schlosser.
Er arbeitete dann für eine Zeitarbeitsfirma, sein Drogenkonsum fiel lange nicht auf. Aber erst verlor er seine Fahrerlaubnis, wurde bei einer Verkehrskontrolle erwischt und positiv getestet. Noch kam er mit einer Geldstrafe davon, die ein Kumpel für ihn bezahlte. Dann blieb er acht Jahre lang arbeitslos, an normale Arbeit war auch gar nicht zu denken. Er benötigte inzwischen 3.000 Euro monatlich für seine Drogen. „Ich klaute Autos und Motorräder, manchmal Diesel auf Baustellen.“ 2012 folgte die erste Haftstrafe. Auch in der Haftanstalt in Zeithain kam er problemlos an Drogen. „Man musste nur zwei Zellen weiter gehen.“ Sein Onkel überwies ihm regelmäßig Geld. „Ich weiß nicht, ob er wusste, wofür ich das ausgegeben habe.“
Nach der Entlassung versuchte er es immer mal wieder mit Arbeit, aber es war kein Verlass auf ihn. Sagt er selbst. Er nahm immer mehr Crystal Meth - und, noch schlimmer - GHB. Diese synthetische Modedroge, die auch als KO-Tropfen verwendet wird, ist extrem gefährlich, die Entwöhnung besonders schwer. Roland Metzner stellte das Zeug selbst aus Felgenreiniger her. Literweise. „Es war billiger und wirksamer.“ Als er mal wieder seine Eltern besuchte, hatte er so viel davon getrunken, dass er in einen komatösen Zustand fiel. Er kam ins Krankenhaus, die Polizei fand jede Menge Liquid Ecstasy bei ihm, wie GHB auch genannt wird. Als er wieder draußen war, ging es weiter. „Das volle Programm.“ 2019 scheiterte noch ein erster Entgiftungsversuch, aber ein zweiter war erfolgreich. War das schwer? „Ich habe kaum etwas mitbekommen. Ich wurde mit Tabletten ruhiggestellt und habe fast nur geschlafen. Aber danach war ich das erste Mal nach 20 Jahren clean. Sie glauben gar nicht, wie schön es ist, mal wieder klar im Kopf zu sein.“ Eine Anklage wegen illegalen Drogenbesitzes endete mit Bewährung, weil er in Therapie „und der Staatsanwalt nett war.“ Dann Umzug nach Magdeburg, um dem Umfeld zu entkommen, Rehabilitation ins Arbeitsleben, jetzt wieder als Fleischer. Erst ging`s gut, dann kam doch wieder der Rückfall. 2022 folgten die dritte Entgiftung und eine Therapie, dann Umzug nach Dresden. „Seither bin ich sauber. Es war nicht mal besonders schwer. Ich wollte einfach nicht mehr.“ Er bewarb sich im Cleanen Wohnprojekt, wurde angenommen und zog hier in eine 4-Mann-WG. Auch er sagt: „Es war das Beste, was mir passieren konnte. Die Betreuer hier sind Bombe.“
Eine dieser neun Betreuerinnen, Sozialpädagogin Bettina Lindau, 49, erklärt das Prinzip des „Cleanen Wohnprojekts“: Drogenabhängige, die die Entgiftung und eine Therapie erfolgreich absolviert haben, müssen sich hier bewerben. „Wir nehmen nicht jeden und jede. In den Bewerbungsgesprächen müssen uns die Klienten überzeugen, dass sie wirklich abstinent leben wollen. Keine Drogen, kein Alkohol, nicht einmal Mon Cheri.“ Wer angenommen wird, muss sich einverstanden erklären, ein bis zweimal wöchentlich Blut- und Urinproben unter Aufsicht abgeben zu müssen. „Wer positiv getestet wird, fliegt raus.“ In einem Mietshaus in Dresden-Friedrichstadt leben die Klienten in unterschiedlich großen Wohnungen, Alleinstehende meist mit Kindern, aber auch ganze Familien, denn oft waren beide Partner drogenabhängig. Wie sieht der Arbeitstag von Bettina Lindau aus? „Ich führe viele Einzelgespräche mit unseren Klienten, will wissen, wie es ihnen geht, welche Probleme sie haben. Ich gehe in Kitas, um zu erfahren, wie sich die Kinder entwickeln und wo wir helfen können. Ich nehme Job-Termine war, um Klienten in Arbeit zu bringen. Ich helfe bei Hausaufgaben, gehe mit Familien auf den Spielplatz, um der Mama zu sagen: Greif mal jetzt ein. Oder auch: Lass mal gut sein. Ich sag den Müttern: Koch mal was, und koch mal was Gesundes.“
Vor allem soll wieder Struktur in den Alltag und ein normales Familienleben entstehen. So hat Erzieherin Corinna Lange an diesem Nachmittag Mütter mit ihren Kindern zum Adventsbasteln eingeladen. Aus Holzscheiben, Tannenbäumchen, Kiefern-Zapfen, Watte und Wolle entstehen kleine Geschenke. Alle haben Spaß daran. Frau Lange hofft, dass solche Beschäftigungen künftig zum Alltag ihrer Klienten gehört, wenn sie das Projekt mal verlassen haben. Freizeit sinnvoll gestalten wird immer wieder im Cleanen Wohnprojekt geübt. Mal geht es in ein Museum, eine Freizeiteinrichtung, auch ins Theater. „Manchmal sind die Klienten zunächst skeptisch, danach aber sagen sie: Das war aber toll“, berichtet Bettina Lindau. Neue Erfahrungen, bisher wurde die freie Zeit meist für Drogenbeschaffung genutzt. Das Problem: Solche Besuche kosten Geld. Deshalb sind Frau Lindau und die anderen Betreuerinnen sehr froh, dass sie jährlich Geld dafür von der Stiftung Lichtblick bekommen.
„Wir sind auch dankbar, dass Klienten, die es geschafft haben und eine eigene Wohnung beziehen, oft Unterstützung von Lichtblick für den Kauf von meist gebrauchten Möbeln bekommen“, sagt Bettina Lindau. Das hilft, wieder auf die eigenen Beine zu kommen. Besondere Unterstützung erhalten im Wohnprojekt die Kinder, die bei suchtkranken Eltern aufgewachsen sind, oft viele Defizite haben und ein sechsfach höheres Risiko, selbst suchtkrank zu werden. Deshalb gibt es ein Projekt „Was mich stark macht“. So fahren Eltern und Kinder im Sommer für eine Wochen in ein Zirkuscamp, wo sie gemeinsam Tag für Tag eine Vorstellung vorbereiten. „Die Kinder lernen hier, Erfolg zu haben, Selbstbewusstsein zu entwickeln. Aber auch zu erfahren: Mama fängt mich wirklich auf, wenn ich vom Balken fallen sollte.“ Oder ein Medienprojekt, in dem Suchtkranke lernen, mit Smartphone, Tablet und Fernseher sinnvoll umzugehen. Die Kinder, und die Erwachsenen gleich mit. Wie stehen nun die Chancen, dass es Suchtkranke wirklich schaffen, das Wohnprojekt clean zu verlassen und ein neues Leben anzufangen? „Die wenigsten brechen ihren Aufenthalt hier ab, vielleicht fünf bis zehn Prozent. Die meisten Klienten werden in eine eigene Wohnung entlassen, wir betreuen sie weiter, bis sie Arbeit haben und gut integriert sind, sagt Bettina Lindau. Ja, einige würden rückfällig, vor allem durch Alkohol, aber jetzt seien sie erziehungsfähig. Sorge bereitet den Betreuerinnen, dass die Drogenkonsumenten immer jünger werden. „Viele fangen jetzt schon mit 11, 12 Jahren mit Cannabis an, bevor sie auf härtere Drogen umsteigen“, sagt Bettina Lindau. „Deshalb sehen wir hier die Cannabis-Legalisierung sehr kritisch.“
Und wie geht es mit Betti Rabel und Roland Metzner weiter?
Frau Rabel ist gerade mit ihrem Jüngsten in eine größere Wohnung im Wohnprojekt umgezogen und ziemlich aufgeregt. Denn ab Februar dürfen ihre beiden Teenie-Töchter wieder bei ihr wohnen. Sie freut sich unbändig darauf, weiß aber auch, dass das eine enorme Herausforderung für sie sein wird. Noch ein, zwei Jahre will sie deshalb im Wohnprojekt bleiben, wo sie jederzeit Hilfe bekommen kann.
Und Roland Metzner? Er hatte im Wohnprojekt seine Partnerin fürs Leben gefunden, sie ist seit vier Jahren clean. Sie zog zuerst aus, die Stiftung Lichtblick half mit Spendengeldern der SZ-Leser, Möbel zu beschaffen. Am 15. Oktober zog Roland Metzner zu ihr. „Jetzt fühle ich mich wohl und fit für den ersten Arbeitsmarkt. Ich bin nur noch nicht sicher, ob ich in meinem Beruf als Schlosser arbeite oder in die Pflege gehe. Die Entscheidung steht bald an.“ Wenn er jetzt in die eigene Wohnung kommt, wartet nicht nur seine Partnerin auf ihn. Auch ihr gemeinsames Kind, es ist jetzt 10 Monate alt. Metzner strahlt.
Text: Olaf Kittel