Die Lausitz. Hier wegzugehen stand nie zur Debatte. Das Nest war selbst gebaut. Dazu gehören zurzeit drei Katzen, zwei Schafe, ein Meerschwein, sechs bunte Hühner und ein Hahn. Der ist der Boss. Felix taufte ihn Hugo. Wenn Felix aus der Schule kommt, füllt er die Wassernäpfe.
Vom Glück begünstigt: So lässt sich der Name Felix übersetzen. Und es sah ja auch alles nach dem großen Glück aus, als der Junge im Februar 2014 als Wunschkind zur Welt kam. Ein Jahr und acht Monate später war es vorbei. Ausgeträumt der Traum von der perfekten Familie.
„Da steht man vor den Trümmern seines Lebens“, sagt Susanne Bunk, Mutter von Felix, 42 Jahre alt, in Dresden-Pillnitz ausgebildet als Agraringenieurin. Landwirtschaft kannte sie von klein auf. Ihr Laufgitter, sagt sie, stand bei den Tieren, weil die Eltern in der Nähe von Wurzen zuerst einen Stall und dann das Eigenheim bauten. Nach dem Studium kümmerte sie sich in Brandenburg um das Herdenmanagement von 1.500 Kühen samt Nachzucht. Das hatte sie immer gewollt. Sie gehört zu den Frauen, von denen es heißt, dass sie voll im Leben stehen. Zupackend, freundlich, unkompliziert. Doch familientauglich war der Zwölf-Stunden-Job nicht. Als sie bei der Feier einer Freundin in der Oberlausitz einen Mann kennenlernte, ließ sie alles stehen und liegen: „Es war Liebe auf den ersten Blick.“ Gemeinsam bauten sie sein altes Bauernhaus aus, klopften den Putz von den Wänden, rissen die Dielen raus, legten eine Fußbodenheizung, und noch hochschwanger hat sie die Deckenbalken gestrichen. „Marko wäre aus Kemnitz nie fortgezogen.“
Am 3. Oktober 2015 verunglückte Marko tödlich. Jemand hatte ihm die Vorfahrt genommen. Die Techniker, die die Ölspur beseitigten, waren Kollegen von ihm und erkannten sein Motorrad. Sie riefen im Dorf an. „Als die Polizei kam, wusste ich es schon“, sagt Susanne Bunk. Damals, sagt sie, trauerte sie doppelt: für sich und für Felix, den kleinen Sohn. Er erbte das Haus und den Kredit, der darauf lag. Die Eltern hatten es nicht mehr geschafft zu heiraten. Als der Kredit auslief, übernahm sie einen neuen über einige zehntausend Euro. Das wird sie noch lange abzahlen. Susanne Bunk kann mit Geld umgehen. Sie arbeitet im Oberland in einem Agrarbüro und berät Landwirte bei Investitionen, Anträgen, Fördermitteln, Abrechnungen, Hofnachfolge … Es ist eine kleine Firma mit viel Verständnis für ihre Situation, sagt Susanne Bunk, „fast mit Familienanschluss“.
Die 42-Jährige mit dem kurzen, grauen Haar fährt gern Rad, sie geht schwimmen, spielt Fußball. Und auch wenn sie in ihren rosa Plastikpantoffeln über den Hof eilt von Stall zu Stall, merkt man nicht, dass sie eine Prothese trägt. Susanne Bunk fehlt der rechte Unterschenkel. Mit geübten Handgriffen schält sie Möhren, hackt Rüben klein, weicht alte Brötchen in Wasser ein, mischt Hefepulver und Mineralfutter, gabelt Heu in Futternetze, für jedes Tier ein handverlesenes Menü. Zweimal täglich. In einer Kladde notiert sie, wie viele Eier Hugos Hofstaat legt. Im Vorjahr hat sie 32 verschiedene Tomatensorten gezüchtet. Huldvoll lächeln Erich Honecker und Willi Stoph von der Stallwand. Die Fotos der DDR-Oberen hatte der Mann hingehängt. Marko war auch Mitglied im Trabi-Klub. Seine Freunde wurden ihre Freunde. „Ohne ihre Hilfe und die meiner Eltern hätte ich es nicht geschafft und würde es heute nicht schaffen.“
Von Geburt an leidet Susanne Bunk unter Abschnürung einzelner Fingerglieder und des rechten Fußknöchels. Als sie sich mit 14 Jahren an dem Fuß eine Blase lief, blieb eine offene Wunde. Es war ein langer Kampf mit Antibiotika, Schmerzmitteln, Amputation einzelner Zehen und dann des Vorderfußes – bis sie sich verzweifelt für die Amputation bis unters Knie entschied. Das war vor vier Jahren. Die ersten Wochen nach der Operation verbrachte sie mit ihrem Sohn bei den Eltern in der Nähe von Wurzen.
Doch dann nahte der Schulanfang von Felix in Kemnitz. Ich stand mit zwei Krücken am Herd und wusste nicht, wie ich kochen sollte. Oder Wäsche aufhängen oder zum Einkaufen fahren“, sagt Susanne Bunk. „Ich habe nur geheult.“ Eine Freundin brachte einen Bürostuhl. Damit rollte sie durch die Wohnung und hatte zumindest die Hände frei. Bis zur Prothese vergingen Monate. Susanne Bunk hatte gehofft, für diese Zeit einen Pflegegrad und eine Haushaltshilfe zu bekommen. Ihre Situation war im Fragebogen des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen nicht vorgesehen. Da war auch Felix vom Glück nicht begünstigt. Er besucht die „Schkola“ in Ebersbach, sie liegt am Arbeitsweg der Mutter. Eine Ganztagsschule in freier Trägerschaft für Kinder mit und ohne Behinderung. In der fünften Klasse ist die Antike dran: Griechenland und die Götterwelt, Olympische Spiele und Tempelbau. Felix bringt seine Arbeitshefte. Er hat die Aufgaben geschafft, obwohl es ihm schwerfällt. Viel lieber spielt er Fußball, zweimal die Woche im Verein und am Wochenende, hinten rechts in der Abwehr. Sein Lieblingsspieler? Lionel Messi. Die Lieblingsmannschaft? Dynamo Dresden. Er spart für den Fan-Shop, vier Euro Taschengeld von der Mutter und zwei von der Großmutter jede Woche.
Felix erzählt lebhaft und ohne Scheu. Doch lebhaft lesen, das kann er nicht. „Da blutet einem das Herz“, sagt Susanne Bunk. „Ich habe ihm jeden Abend im Bett vorgelesen, er hat Geschichten gern. Jetzt ist er oft traurig.“ Seine Augen können die Zeilen nicht halten. Das ließe sich vermutlich ändern mit einem Verfahren, das Syntonic Optometrie heißt. Spezielle Lichtfrequenzen können die Fehlfunktion der Augen korrigieren. Dabei werden die Netzhaut und die fürs Sehen zuständigen Gehirnregionen stimuliert. Die Krankenkasse bezahlt die Behandlung nicht. Die Stiftung Lichtblick übernimmt einen Teil der Kosten. „Ich bin dafür sehr dankbar“, sagt Susanne Bunk. Die Sozialberatung der Diakonie von Löbau/Zittau vermittelte den Kontakt. Ein Termin für Felix bei einem Bautzener Optiker ist längst vereinbart. Er kommt bloß nicht hin mit seiner Mutter. Das fünf Jahre alte Auto, das für ihre Behinderung umgebaut wurde, hat einen Getriebeschaden. Die Reparatur soll 7.000 Euro kosten. Doch die letzte finanzielle Reserve ging für das Dach drauf. Frau Bunk könne das Auto verkaufen und bekäme 18.000 Euro dafür, meint die Berliner Rentenversicherung, die in diesem Fall für die Arbeitsfähigkeit ihrer Klientin zuständig ist. „Wer kauft ein kaputtes Auto für so viel Geld?“, fragt Susanne Bunk. Wieder kämpft sie einen Papierkrieg, wieder ist sie auf die Hilfe von Freundinnen und Freunden im Ort angewiesen. Felix wird zum Schulbus und zum Fußball gebracht und zurück. Da hat er Glück.
Text: Karin Großmann